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17.10.2024

Gespräch mit Thomas de Vachroi und Martina Steffen-Eliş

"Armut zerstört die Gesellschaft von innen"

interview kirche.eine.stimme.gebenArmut kann jede und jeden von uns schneller treffen, als wir uns vorstellen können. Die Zahlen werden für die gesamte Gesellschaft steigen, prognostiziert Thomas de Vachroi, Armutsbeauftragter der evangelischen Landeskirche. Pfarrerin Martina Steffen-Eliş, Vorsitzende des BALZ, fordert ein größeres Engagement der Kirche für arme Menschen.

Aus Anlass des heutigen "Internationalen Tags für die Beseitigung der Armut" dokumentieren wir ein Interview, das Cornelia Schwerin, Öffentlichkeitbeauftragte im Evangelischen Kirchenkreis Tempelhof-Schöneberg, mit beiden Ende August geführt hat.

Thomas, Du bist Armutsbeauftragter der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz. Martina, Du bist Vorsitzende des Vereins Berliner Arbeitslosenzentrums evangelischer  Kirchenkreise, kurz BALZ. Ist Armut ein politisches oder ein kirchliches Thema?
Thomas de Vachroi
: Um es gleich vorneweg zu sagen: Die evangelische Kirche ist nicht die Armutsbeauftragte des Staates. Wir zeigen sehr konkret, wo die Probleme in der Gesellschaft liegen und wie sie politisch verändert werden müssen. Die Kirchen haben die Armut von Menschen schon immer im Blick gehabt und entsprechend gehandelt. Neu ist seit einigen Jahren die große Dimension der Armut in unserer Gesellschaft und da gibt die evangelische Kirche den Menschen und dem Thema eine Stimme.
Steffen-Eliş: Aus unserem christlichen Menschenbild heraus helfen und unterstützen wir, das ist unsere Aufgabe. In unserem Berliner Arbeitslosenzentrum beraten wir Menschen, bieten ihnen Gruppen und Kurse an und machen gleichzeitig der Politik klare Ansagen, was sich verändern muss. Denn die Armut hat inzwischen sehr viele Menschen auch in ehemals gut situierten Stadtteilen erfasst.

De Vachroi: Das kann ich bestätigen. Berlin ist mittlerweile flächendeckend von Armut betroffen. In Berlin lebt jedes Fünfte – nochmal jedes Fünfte! – Kind in Armut und besonders betroffen sind Kinder in Marzahn-Hellersdorf. In anderen Bezirken werden vor allem ältere Menschen immer ärmer – meist unbemerkt von Politik und Nachbarschaft.

Sichtbar arme Menschen leben in Parks, auf Bahnhöfen, übernachten unter Brücken. Wo seht ihr die unsichtbare Armut?
Steffen-Eliş
: Das betrifft vor allem alleinerziehende Frauen und Rentnerinnen und Rentner. Wir erleben das sehr konkret. Die Menschen hier im Schöneberger Akazienkiez haben oft alte Mietverträge und können sich ihre Wohnung gerade noch leisten. Aber in der kalten Jahreszeit wird das Heizen zu teuer und sie kommen in unsere täglich geöffnete Kirche, um sich hier zu wärmen.
De Vachroi: Rechnen wir mal. Die durchschnittliche Rente beträgt in Deutschland momentan 1 200 bis 1 400 Euro, brutto wohlgemerkt. Schaut man sich die Statistik an, werden im nächsten Jahr 50 Prozent derjenigen, die neu Rente beziehen, durchschnittlich nur 1 000 Euro bekommen. Ich sehe da eine große Welle an Armut auf uns zukommen, die unsere Gesellschaft im Innersten zerstören kann.
Steffen-Eliş: Immer häufiger werden wir auch nach Lebensmitteln gefragt. Ein Beispiel: Eine alleinerziehende Studentin konnte aus gesundheitlichen Gründen ihr Examen nicht ablegen. Sie hatte einen Studienkredit aufgenommen, der sofort abbezahlt werden musste, obwohl sie erst im Oktober ihre Prüfungen nachholen kann. Hier können wir als Gemeinde über die diakonische Aktion „Essensgutscheine“ helfen, die allergrößte familiäre Not zu lindern.

Warum greift in einem so reichen Land wie Deutschland das soziale System nicht?
De Vachroi
: 60 Prozent der obdachlosen Menschen in Berlin kommen aus Osteuropa und haben bei uns keinen Anspruch auf soziale Leistungen. Sie sind komplett auf Tee-und Wärmestuben und Geldspenden angewiesen – für diese Menschen werden wir als Kirche zum Ort, wo sie überhaupt noch Hilfe erhalten.
Steffen-Eliş: Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um die Frage, ob Menschen in unserer Gesellschaft teilhaben können. Wenn immer mehr Menschen nur noch ganz knapp über die Runden kommen, dann ziehen sie sich zurück. Denn Armut macht einsam und krank. Das Grundgesetz sieht die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben vor. Wer arm ist, hat diese Teil -habe nicht oder nur sehr begrenzt. Als Kirche machen wir viel für von Armut betroffene Menschen. Aber wir fordern beim Thema Armut und insbesondere der Altersarmut die Politik noch viel zu wenig. Da müssen wir lauter werden.

Einerseits gibt es Menschen, die keine Lebensmittel kaufen können, andererseits werden Tonnen von Lebensmitteln weggeworfen.
De Vachroi
: Das ist eine menschliche Schande! Lebensmittel sind das Wertvollste, was wir haben. Wir stellen an die Politik sehr klare Forderungen: Alle übrig gebliebenen Lebensmittel aus den Supermärkten müssen an die Tafeln gegeben werden. Andere Länder machen das so, warum gelingt das in Deutschland nicht? Unsere Forderungen gehen aber noch weiter: Gesunde Lebensmittel sollen von der Mehrwertsteuer befreit werden. Denn wenn Obst und Gemüse heute unerschwinglich ist, bedeutet das in Zukunft gesundheitliche Probleme für viele, auch jüngere Menschen. Energie, Wasser und Wohnraum müssen für alle da sein, sie dürfen nicht unbezahlbar werden. Armut zerstört unsere Gesellschaft von innen. Das dürfen wir nicht zulassen.

Das Interview erschien zuerst online auf: www.berlin-evangelisch.de

Foto: Cornelia Schwerin ©